Begeisterung und Wissen über Musik - in genau dieser Reihenfolge! - (mit-) teilen, diese Idee habe ich schon länger. Und zwar subjektiv, leidenschaftlich und unabhängig. Das Blog-Format ist dafür wie geschaffen.
Zivilisation heißt Differenzierung. (Sascha
Lobo)
Das kulturlose Elend der Corona-Zeit war schlimm. Es hat aber doch einiges Positive hervorgebracht, etwa das Streamen von Konzerten und Opernaufführungen. Normalerweise ist das nicht so prickelnd, weil atmosphärisch und musikalisch einiges auf der Strecke bleibt, aber gestern Abend (31. Juli 2021) war ich einfach nur glücklich, dass ich Richard Wagners Tristan aus der Bayrischen Staatsoper hören und auch ein bisschen sehen durfte. Des Klangeindrucks wegen habe ich mir die Radioübertragung angehört und ab und zu mal in den Stream geschaut, der leider ein wenig zeitversetzt war und hinterherhinkte. Immerhin bekam ich einen Eindruck und gewann die Überzeugung, dass die doch sehr statische Inzenierung weitgehend verzichtbar war. Dem Zeitgeist beziehungsweise der Regiemode geschuldet waren wohl die beiden Cyborgs während des Vorspiels und das unvermeidliche Video, die nichts zur tieferen Erkenntnis der Handlung beitrugen. Am besten gefielen mir die prachtvollen Kostüme. Anja Harteros als Isolde und Jonas Kaufmann als Tristan waren das absolute Traumpaar, das die Mörderpartien in der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski, die am 29. Juni 2021 Premiere feierte, mit kaum glaublicher Perfektion gestalteten. Die Corona-Pause hat für ausgeruhte Stimmbänder gesorgt, so dass die Anstrengung, die das Singen bedeutet, nur in seltenen Momenten zu ahnen war. Zum opulenten stimmlichen Wohlklang gesellte sich das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung des genialen Kirill Petrenko, der mit traumwandlerisch anmutender Sicherheit die Balance zwischen Bühne und Graben hielt. Die glühende Spannung des Wagnerschen Nachtstücks ließ in keiner Sekunde nach, Intensität verband sich mit einer gleichsam sprechenden Dynamik, Stimmen und Orchester vereinten sich zu einem strömenden Espressivo. Inneres Musiktheater, sozusagen.
In Coronazeiten brauche ich dringend spannende Hörbücher: Tschudi von Mariam Kühsel-Hussaini, gelesen von der Autorin selbst, finde ich unbedingt empfehlenswert. Der ganz spezielle Sound von Kühsel-Hussaini war für mich kurz gewöhnungsbedürftig; ihre Sprache ist bildreich, sinnlich, atmosphärisch dicht und sprüht von Farben. Mit ihrer betörenden Stimme und ihren unnachahmlichen Tonfällen verleiht sie dem üppigen Roman Leben und Tiefe. Schönheit, Melancholie, Begeisterung und Liebe, die elektrisierend neue Kunst der Impressionisten und die wütende Ablehnung konservativer Kreise sind seine Themen. Zentrale Figur ist der Kunsthistoriker und Museumsleiter Hugo von Tschudi, der im kaiserlichen Berlin der Jahre um 1900 die ersten Gemälde der französischen Impressionisten für die Nationalgalerie kauft. Fachlich überragend, hat Tschudi in der künstlerischen Avantgarde zahlreiche Freunde und Mitstreiter, etwa Max Liebermann, Lovis Corinth, Max Slevogt, um nur die Bekanntesten zu nennen. Sein Handicap ist die Krankheit Lupus vulgaris, die nach und nach die Gesichtszüge zerstört und zum verfrühten Tod führt. Allein dieses menschliche Drama ist eine berührende Geschichte. Spannung erhält der Roman darüber hinaus durch die Gegnerschaft von Kaiser Wilhelm II., der künstlerisch den akademischen Historismus vorzieht. Als Geldgeber muss er von Tschudi bei Kunstankäufen zustimmen, seine Ignoranz und sein Wankelmut führen letztlich dazu, dass von Tschudi Berlin verlässt. Guten Romanstoff liefern weiter die Intrigen um den leicht beeinflussbaren Kaiser, die nicht neu sind, aber hier in besonders intensivem Licht erscheinen. Mariam Kühsel-Husseini durchleuchtet die Gedanken und Gefühle der Handelnden in äußerst subtiler, stimmiger Weise; durch ihren Erzählstil und nicht zuletzt durch ihre an mündliche Tradition erinnernde Erzählweise (die einfaches Einlesen bei weitem übertrifft) zeichnet sie ein eindringliches Personen-, Zeit- und Sittenbild.
Gerade eben, Anfang 2018, erschien Sophie Charlotte. Preußens erste Königin von Barbara Beuys im Insel-Verlag. Sophie Charlotte, geboren als Herzogin von Braunschweig und Lüneburg, später von Hannover, verdankte ihre ausgezeichnete Ausbildung vor allem ihrer Mutter Sophie von der Pfalz, die in den liberalen Niederlanden aufgewachsen war. Ihre umfassende Bildung unterschied sich nicht von der ihrer Brüder: Sprachen vor allem, Literatur, Tanz und jede Menge Musik, für die schon die Eltern viel Begeisterung und Geld aufbrachten. Sophie Charlotte erhielt eine gründliche musikalische Ausbildung und wirkte am Cembalo bei vielen Aufführungen mit. Das gilt vor allem für die Jahre nach ihrer Hochzeit mit dem Kurprinzen Friedrich von Brandenburg, in denen sie vor allem in ihrem neuen Schloss in Lietzenburg (später Charlottenburg) dem kulturellen Leben in Berlin entscheidende Impulse gab. Der Kurfürst und (ab 1701) König in Preußen schätzte den Glanz, den seine Gemahlin in das geistig und kulturell wenig aktive Berlin brachte. Sie zog nicht nur interessante Musikerinnen und Musiker an ihren Hof, sie pflegte auch Freundschaften mit bedeutenden Denkern wie Gottfried Wilhelm Leibniz. Barbara Beuys kann in ihrer Lebensbeschreibung auf die Teile der ausgedehnten Korrespondenz zurückgreifen, die nach dem frühen Tod der Königin nicht verbrannt worden sind. Ihre Darstellung gewährt tiefe Einblicke in das Leben des ausgehenden Barockzeitalters, auf die prägenden Einflüsse für Sophie Charlotte, auf ihre Persönlichkeit, die genau zwischen offizieller Rolle und privaten Interessen unterscheidet. Es gelingt Sophie Charlotte zwar nicht, ihre Vorliebe für Schöngeistiges, Philosophie, Literatur und Musik, an ihren einzigen Sohn Friedrich Wilhelm, den Soldatenkönig, weiterzugeben. Ihre Enkel Friedrich II. von Preußen und Wilhelmine von Bayreuth, deren Mutter Sophie Dorothea ebenfalls eine Hannoveranerin ist, greifen das Erbe ihrer Großmutter und ihrer Mutter mit großem Enthusiasmus auf. Die Konflikte, die daraus entstehen, sind aber eine andere und weitaus bekanntere Geschichte als das Leben Sophie Charlottes.
Über den Roman Justizpalast bin ich auf die Schriftstellerin Petra Morsbach gestoßen. Ich fand das Buch großartig, klug, dabei mitreißend und spannend geschrieben, also habe ich mich informiert, was es bei ihr noch an
gutem Lesefutter zu entdecken gibt. Der Titel Opernroman ließ bei mir Glöckchen klingeln, und ich besorgte
mir die Ausgabe, die 1998 bei Eichborn in Frankfurt/Main erschienen ist. Die Autorin, die etliche Jahre als Dramaturgin und Regisseurin gearbeitet hat, konnte für das Buch auf einen reichen
Erfahrungsschatz zurückgreifen. Empathie für ihr Personal, die meist von prekären Beschäftigungsverhältnissen lebenden Sänger*innen, Tänzer*innen, Dirigent*innen, und ironische Zuspitzungen
prägen die Geschichten, die Morsbach in einer Vorrede, fünf Kapiteln und einem Epilog erzählt. Der eine oder andere Theaterwitz fasst das Erzählte pointiert zusammen. Dieser Blick hinter die
Kulissen empfiehlt sich nur für Menschen, die sich sicher sind, dass sie die eklatante Diskrepanz zwischen theatraler Illusion und prosaischer Realität auch aushalten.
Der Ring im Badischen Staatstheater ist rund - zumindest, was das Musikalische betrifft. Der scheidende Generalmusikdirektor Justin Brown, die Badische Staatskapelle, die Herren des Badischen Staatsopernchores und des Extrachores des Badischen Staatstheaters und die Solistinnen und Solisten überzeugten in fast allen Belangen. An der einen oder anderen Stelle hätte ich mir gewünscht, dass Brown das Orchester noch etwas mehr zurücknimmt, damit von den Sängern mehr zu hören ist, und Heidi Meltons Spitzentöne waren vor allem im ersten Akt oft messerscharf und erreichten nur mit Mühe die von Wagner beabsichtigten Höhen. Abgesehen davon war ihre Brünnhilde darstellerisch und sängerisch ein intensives Erlebnis. Auch Daniel Frank kam als Gast ans Badische Staatstheater. Sein Siegfried ließ körperlich zwar sämtliche heldischen Attribute missen, stimmlich glänzte er durchweg. Letzteres ist in der Oper immer noch wichtiger ... Ans Unheldische, Ungöttliche und ganz und gar Unkönigliche musste ich mich in Tobias Kratzers Inszenierung nicht lange gewöhnen - seine Götterdämmerung hat Witz und Esprit und ist in keiner Minuten langweilig. Gunther ist bei ihm ein Labbeduddel in Freinripp-Unterwäsche, der seinen Halbbruder Hagen noch dringender braucht als das bereits in Scheiben vorgeschnittene Brot mit der Margarine (vermutlich halbfett ...), die Gutrune auf den Tisch des Hauses Gibichungen stellt. Nein, gegen diese hinterlistige Bagage kann Siegfried in seiner Blauäugigkeit nicht ankommen. Ganz wunderbar: Konstantin Gorny als Hagen und Armin Kolarczyk als Gunther. Eigentlich und ganz im Grunde geht es in der Götterdämmerung wie im gesamten Ring des Nibelungen um die uralte Frage, ob Gold wichtiger sei als die Liebe. Berückend fand ich den Regieeinfall, Brünnhilde nicht ihren Liebestod sterben zu lassen, sondern sie und Siegfried zum Anfang zurückzukatapultieren und ihre Liebesszene zu wiederholen, nachdem sie den vermaledeiten Ring auf den Scheiterhaufen oder in den Rhein, wer weiß das schon so genau, geworfen hatte. Die Liebe ist wichtiger als der schnöde Mammon - davon lasse ich mich durch Wagners sehrende Musik doch gerne überzeugen, zumindest als Utopie und wunderbarem Theatermoment. Und zum Schluss des Rings, wenn der goldene Ring wieder im Rhein bei den Rheintöchtern liegt, der Urzustand also wieder hergestellt ist, könnte das megalomane Drama ja wieder von vorne losgehen. Dann doch lieber die kleine Zeitschleife zurück zur liebenden Vereinigung von Brünnhilde und Siegfried.
Hetero-, homo-, bi- und trotz der Schluffi-Klamotten (Bühne und Kostüme: Rainer Sellmaier) irgendwie metrosexuell geht es in Kratzers Inszenierung die ganze Zeit zu. Nach einem kurzen Moment der Verblüffung - sind die Nornen falsettierende Kerle, die sich als Regisseure verkleidet haben, oder kesse Väter, die sich als Kerl gefallen - wird das mir ziemlich egal, und ich freue mich jedes Mal, wenn die androgynen Wesen die Bühne stürmen und versuchen, das Unheil doch noch irgendwie aufzuhalten. Nach Kratzers Idee sind die drei Nornen beziehungsweise Rheintöchter die Regisseure der ersten drei Musikdramen des Ring des Nibelungen - dies hat mich nicht gestört, ich habe es, wie das Kino-Setting, als Gag schnell akzeptiert. Die Kernhandlung hat mich schnell gepackt und war einfach stärker ... Die Nornen und die Rheintöchter wurden von Katharina Tier, Dilara Bastar und An de Ridder verkörpert, bei den Rheintöchtern übernahm Agnieszka Tomaszewska die Sopranpartie. Katharina Tier lieferte auch den Botenbericht der Waltraute ab, die versucht, die liebestrunkene Brünnhilde wieder den Göttern näherzubringen.
Der einzige Regieeinfall, den ich nicht verstanden habe beziehungsweise den ich für falsch halte, ist, Alberich als Selbstkastrierer auf die Bühne rutschen zu lassen, der seinen Sohn Hagen zu einer ebensolchen Tat anstachelt. Das ist deshalb falsch, weil Alberich sich ausdrücklich gegen die Liebe, aber nicht gegen die Lust ausgesprochen hat (Sohn Hagen stammt aus einer Vergewaltigung von Gunthers und Gutrunes Mutter). Oder meint Kratzer, dass Alberich seine Miesigkeit einsieht und deshalb selbst kastriert? Oder dass seine lieblosen, empathiefreien Taten einfach bestraft werden müssen? Hm - das wäre schon sehr, sehr optimistisch. Jaco Venter jedenfalls hat als Alberich Eindruck gemacht, auch stimmlich. Christina Niessen als Gutrune, szenisch überzeugend wie übrigens alle Akteure, hat mir stimmlich nicht so gut gefallen. Sie klang stellenweise angestrengt und nicht so schön timbriert, wie ich sie in Erinnerung habe.
Der größere Teil des Publikums war nicht entzückt und buhte ausgiebig.
Vor einiger Zeit habe ich den unglaublich spannenden und bedrückenden Roman Der Lärm der Zeit von Julian Barnes über das Leben Dmitri Schostakowitschs (1906-1975) nicht gelesen, sondern atemlos verschlungen. Es gibt viel biografische und musikwissenschaftliche Literatur über den unglücklichen Komponisten, der zu einem gefährlichen Tanz mit dem Sowjetregime gezwungen war. Julian Barnes wählt für seine Schilderungen die Innensicht Schostakowitschs, und es geht um nicht weniger als das nackte Überleben, um Anpassung und Verbiegen, um Selbstachtung und um künstlerische Integrität. Der Diktator Stalin ließ seinem Unverständnis über Dmitri Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk in einem Artikel, der in der Prawda erschien, freien Lauf, danach konnte sich der Komponist lange Jahre seines Lebens nicht mehr sicher sein. Zeitweise schlief er sogar neben dem Fahrstuhl, damit seine Familie bei der befürchteten Verhaftung, die willkürlich und im Morgengrauen vorgenommen wurden, nicht geweckt werde. Barnes zieht kluge Vergleiche zwischen dem Orchestertyrannen Toscanini und der durch Despotie verbogenen Gesellschaft: Zwar musste der Maestro sie [die Musiker] von Zeit zu Zeit notgedrungen etwas hart anfassen, aber er war ein großer Führer und man musste ihm folgen. Wer wollte da noch bestreiten, dass ein Orchester ein Mikrokosmos der Gesellschaft war?
Tja, womit fange ich an? Mit dem Sänger des Titelhelden: Erik Fenton. Er hielt die Riesenpartie des Siegfried nicht nur durch, er gestaltete Text und Rolle zupackend und intelligent. In ganz wenigen Momenten hörte ich seine US-amerikanische Herkunft durch, aber so what - man nimmt's zur Kenntnis und hört drüber weg. Bei Brünnhildes Erwachen ging er neben der in jeder Hinsicht überragenden Heidi Melton nur ein bisschen in die Knie, das will ja auch schon was heißen. Neu auf der Bühne war auch Uliana Alexyuk als Waldvogel, hier hätte ich eine zwitscherleichte Stimme mit weniger Vibrato vorgezogen. Renatus Meszar als Wanderer verkörperte den traurigen Gott, dem der pubertierende Enkel frech auf der Nase herumtanzt. Matthias Wohlbrecht und Jaco Venter als Mime und Alberich überzeugten als gierig-verschlagene Nibelungen, Avtandil Kaspeli als Fafner und Katharine Tier in der Rolle der Erda ergänzten das insgesamt hervorragende Ensemble. Glücklicherweise ging der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson ebenso witzig und detailliert zu Werke wie seine Vorgänger im Rheingold und in der Walküre, auf der Bühne ging es meist quirlig und sehr lebendig zu. Merkwürdigerweise fand Brünnhildes Erwachen zu Beginn komplett als Erzählung und nicht als Bühnenhandlung statt - der Spannungsbogen der Oper sackte hier ordentlich durch, und die Zuhörerin musste sich daran gewöhnen, dass es hier nichts zum Schauen, sondern nur etwas zu hören gab. Die Bühne von Vytautas Narbutas glich einer riesigen Puppenstube mit Fafner auf der Galerie, vollgestopft mit sehr naturalistischen Möbeln, Utensilien, Statuen, Büsten, Kisten, Kasten und Werkzeug, Herd und Kinderwagen. Damit die Zuhörerin in diesem Wimmelbild nicht den Blick fürs Wesentliche verlor, setzte Sunneva Ása Weisshappel, für Kostüme und Video verantwortlich, auf in riesigem Video eingespielte Augen, die die fein erspürten Emotionen der Dramatis personae ausdrückten. Sehr witzig die Idee, Siegfried in Heldenkostüme zwischen barocker Oper und Superman zu stecken und die der Mischung für das neue Schwert Nothung beizufügen. Ein bisschen Poesie und Naturzauber kam durch den schwebenden Waldvogel und seine Kolleginnen auf die Bühne, mehr Witz als Wagner, dass Siegfrieds Hornmotiv von einem in ein knallbuntes Clownkostüm gesteckten Hornisten - Dominik Zinsstag - auf der Bühne geblasen wurde. Möglicherweise waren es solche Momente, die einen nicht kleinen Teil des Publikums zu Buhs für das Regieteam veranlasste. Die Badische Staatskapelle und GMD Justin Brown hielten das vorzügliche Niveau, das sie im Rheingold und in der Walküre vorgelegt haben, und musizierten klangschön und mit viel Sinn für den Atem der Sängerinnen und Sänger auf der Bühne.
Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos.