Klangrausch - unplugged

Musik in Karlsruhe

 

Margarete Schweikert

Ich lebe in Karlsruhe, hier bin ich zum ersten Mal in die Oper und ins Konzert gegangen. Viele Jahre habe ich für die regionale Zeitung über das Musikleben in Karlsruhe berichtet, und seit einigen Jahren schreibe ich über ausgewählte Themen zur Musikgeschichte in Karlsruhe. Besonders intensiv begleitet mich Margarete Voigt-Schweikert, eine Komponistin, die von 1887 - 1957 gelebt und vor allem sehr schöne und starke spätromantische Lieder geschaffen hat. Ich habe das Glück, mit der GEDOK und einigen wunderbaren Musikerinnen und Musikern im Schweikert-Projekt zusamenzuarbeiten. Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben, das Werk dieser Komponistin dem Vergessen zu entreißen, ihre Noten herauszugeben, CDs aufzunehmen und über sie zu publizieren. Letzteres möchte ich auch auf dieser Webseite tun, nach und nach werde ich hier bereits Publiziertes und neue Texte aufnehmen.

Johann Melchior Molter und Alte Musik aus Karlsruhe

2015 feiern wir in Karlsruhe den 300. Stadtgeburtstag. Obwohl die Stadtoberen in ihrer unendlichen Weisheit beschlossen haben, ein Fest für alle Bürgerinnen und Bürgern zu feiern und die Bereiche und Themen, die kein Massenpublikum ziehen, mehr oder weniger außen vor zu lassen, wird aus diesem Anlass auch in Karlsruhes musikalischer Vergangenheit gekramt. Mein Beitrag war ein kleiner Artikel zu Johann Melchior Molter, dem ersten Hofkapellmeister in Karlsruhe:

Eine rundum überzeugend gelungene CD mit sechs Concerti Molters haben 2015 das Gottesauer Ensemble und die Solisten Stefanie Kessler (Traversflöte), Georg Siebert (Oboe), Lisa Shklyaver (Klarinette), Kristian Nyquist (Cembalo), Dmitri Dichtiar (Barockcello) und Kyrill Rybakov (Klarinette) eingespielt. Sie ist unter dem Label Musicaphon beim Klassik Center Kassel erhältlich. Ich finde, dass die Musik Molters die Mühe der Wiederentdeckung lohnt - in der Badischen Landesbibliothek liegen jede Menge ungehobener Schätze.

Während wir über das Musikleben Karlsruhes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon sehr gut informiert sind - ich schreibe nur Hoftheater, Eduard Devrient, Hermann Levi, Felix Otto Dessoff, Felix Mottl und die Wagner-Pflege -, liegt die Zeit zwischen Stadtgründung und 1850 noch im Halbdunkel. Deshalb verdient jede Anstrengung um diese Epoche zwischen Spätestbarock, Klassik und früher Romantik Lob und Unterstützung. Sicherlich gab es zwischen 1715 und 1850 etliche Tiefen um das kleine Hoftheater und die Badische Staatskapelle - übrigens eines der ältesten Orchester in Deutschland und, wie das Badische Staatstheater stolz verkündet, das sechstälteste der Welt -, aber eben auch einige Höhen mit Musikern und Komponisten, die aller Ehren wert sind.

Anlässlich des Stadtgeburtstags präsentiert das Karlsruher Barockorchester unter der Leitung von Kirstin Kares Musik am Hofe zu Carlsruhe, genauer aus den ersten einhundert Jahren der Stadt. Damit umfasst die CD genau jene Jahrzehnte zwischen spätem Barock und den Vorläufern der Romantik, die bislang nicht im Fokus des Interesses standen. Vor allem Freundinnen und Freunde der Alten Musik dürften an der Aufnahme Gefallen finden. Auf der bei Christophorus erschienenen CD sind  bis auf die Ouvertüre D-Dur op. 41 von Friedrich Ernst Fesca lauter Ersteinspielungen zu hören. Die Kompositionen zwischen Spätbarock und Klassik beginnen mit der Suite C-Dur Musicalische Bataille von Johann Philipp Käfer. Vom ersten Hofkapellmeister der Markgrafen von Baden-Durlach, Johann Melchior Molter, findet sich eine Sinfonie G-Dur in der Sammlung. Mit Sinfonien sind auch Sebastian Bodinus (B-Dur), Friedrich Schwindl (D-Dur) und Johann Evangelist Brandl (Es-Dur op. 12) vertreten . Außerdem haben die Musikerinnen und Musiker Franz Danzis Ouvertüre zum Singspiel Turandot aufgenommen. Die CD ist schön anzuhören, sie gibt einen guten Einblick in die musikalische Praxis an einem kleinen deutschen Fürstenhof, deren Intensität und Qualität von äußeren Geschicken wie Krieg, Frieden und finanzieller Leistungskraft, aber auch vom Kunstsinn des Landesherren und ihrer Gemahlinnen abhing.

Ein weiteres spannendes Projekt wurde im November 2015 Realität: Anne Kern hat die Oper Die romanische Lucretia von Casimir Schweitzelsperg wieder ausgegraben und die Noten für die Aufführung herausgegeben.  Die Oper ging 1715 in Durlach über die Bühne und wurde im gleichen Jahr gedruckt. Die Drucke liegen im Original im Landesarchiv Baden-Württemberg. Das Besondere an der Romanischen Lucretia ist, dass sie nur für Frauenstimmen gesetzt ist. Das lag an der Geldknappheit des badischen Hofs, der sich die teuren Kastraten der barocken italienischen Seria-Oper nicht leisten konnte. 

 

Die badischen Markgrafen unterhielten in Durlach eine Hofkapelle und ein Hoftheater, an dem erstaunlich viele Opern aufgeführt wurden. Eigentümlich war nicht nur die Besetzung mit Frauenstimmen (bei kritischer Betrachtung ist das deutlich weniger fragwürdig als die Kastration von mehr oder weniger stimmbegabten Knaben), eine Durlacher Besonderheit war auch, dass die Texte auf Deutsch gesungen wurden.  Die Hofsängerinnen nämlich kamen oft aus der kleinen Markgrafschaft, die 1715 etwa 50.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, unter den Solistinnen befanden sich auch einige Italienerinnen. Das barocke Schloss nach Plänen von Domenico Egidio Rossi, in dem sich der Theatersaal befand, blieb unvollendet.  Der Vorgängerbau war, wie fast ganz Durlach, während des Pfälzischen Erbfolgekrieges 1689 in Flammen aufgegangen. Letztendlich erwies sich der Platz in Durlach für eine barocke Schlossanlage als zu klein, und Markgraf Karl Wilhelm entschloss sich, im Hardtwald eine neue Residenz zu gründen - Karlsruhe. Doch zurück zur Romanischen Lucretia:  Anne Kern, die in ihrem Aufsatz Vom Benediktinermönch zum Schauspieldirektor. Casimir Schweizelsperg und seine Oper "Die romanische Lucretia" (Badische Heimat 1/2, 2015, S. 183 - 193) ihre Erkenntnisse zu Oper und Komponist darlegte, teilte mir mit, dass die Aufführungen 1715 im Sommer stattfanden - möglicherweise im 1700 angelegten Gartentheater im Durlacher Schlossgarten.


Leider wissen wir nicht, wer bei diesen Aufführungen bei Hofe als Zuschauerinnen und Zuschauer zugelassen waren. Beschränkte sich das Publikum auf die Hofgesellschaft der Karlsburg? Ich vermute schon, denn das Hoftheater dort spielte in einem ganz normalen, nicht speziell für Theateraufführungen gebauten Saal. Ein Theatersaal wurde erst in das Karlsruher Schloss eingebaut, den ersten "richtigen" Theaterbau bezog das Badische Hoftheater erst 1810.

Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach, der von 1709 bis 1738 regierte, liebte die Oper und auch einige der Sängerinnen. Wie in der Barockzeit üblich, griff er für die Opernaufführungen an seinem Hof zu mythologischen Stoffen, die seine Hofkapellmeister und andere Angehörige der Hofkapelle vertonten. Seine Hausdichter übersetzten dafür französische und italienische Vorlagen ins Deutsche.  Ein Alleinstellungsmerkmal der Durlacher Oper waren die deutschen Texte - an finanziell besser gestellten Höfen wurde italienisch gesungen. Karl Wilhelm jedenfalls machte aus der Not eine Tugend, und so wurden Durlach und Karlsruhe zu wichtigen Spielstätten der frühdeutschen Oper. Ludwig Schiedermair, einer der Pioniere der Musikwissenschaft, führte schon zu Beginn des 20.  Jahrhunderts 37 Libretti von Opern auf, die zwischen 1712 und 1732 in Durlach und Karlsruhe aufgeführt wurden. Die Musik ist meist verloren, die Noten wurden im Gegensatz zu den Libretti nicht gedruckt. Das Besondere an barocken Opern ist, dass die Libretti weit verbreitet waren - es gibt Operntexte, die mehrmals vertont wurden -, die Kompositionen aber wurde speziell für einen Hof oder ein Theater angefertigt. 

Der Textdichter oder Übersetzer von Casimir Schweitzelspergs Romanische Lucretia ist unbekannt. Die Namen der Dienerfiguren, Colombine, Arlequin, Lison und Scaramouche legen ein französisches Vorbild oder französischen Einfluss nahe. Diese derben Buffa-Figuren, die der volkstümlichen Commedia dell'arte entlehnt sind,  neben den Seria-Figuren der Tragödie um Lucretia  in einer einzigen Oper sind eine Karlsruher Besonderheit. Die Sujets der höfischen Oper basieren meist auf mythologischen und historischen Vorlagen, das Personal sind Götter, Halbgötter, Heroen und Fürsten. Die Romanische Lucretia  hat zwar eine tragische Handlung der römischen Antike als Kern, die Dienerfiguren dürfen sich aber über die Heldin, die sich nach einer Schändung  durch den Fürsten selbst tötet, lustig machen. Eine ähnliche Konstellation von tragischer Heldin der Mythologie und Typen der Commedia dell'arte findet sich erst wieder in der Ariadne auf Naxos von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss. Hier wie dort lassen sich aus dem Zusammenprall der unterschiedlichen Welten komödiantische Funken schlagen. Die "Moral", die von Karl Wilhelm von Baden-Durlach und seiner Hofgesellschaft aus der Romanischen Lucretia gezogen werden konnte, klingt so: Völliges Unverständnis für eine Frau, die ihrem Mann treu bleiben möchte, obwohl sie vom Fürsten des Landes begehrt wird. Schließlich profitiert auch der Mann in Form von Pfründen, Ämtern und anderen Zeichen der Anerkennung von der fürstlichen Dankbarkeit. Und: Lob und Bestätigung für Karl Wilhelm, der nicht vergewaltigt, sondern seinen Ruf als großer Verführer verteidigen darf. Sogar die anderen weiblichen Figuren der Oper, die Vertraute und die Dienerinnen, bemühen sich, Lucretia davon zu überzeugen, dass es ihre Pflicht ist, dem Begehren des Fürsten nachzugeben. "Frauenfreundlich" wurde im absolutistischen Barock eben anders definiert als heute ... Es ist überhaupt ganz amüsant zu sehen, wie das in Barockopern übliche Fürstenlob oder der Appell an die Güte und/oder Milde des absolutistischen Herrschers in der Romanischen Lucretia in eine Feier des liebesgewaltigen Landesherrn gewendet wird.

Die Regeln der Wohlanständigkeit (bienséance), die üblicherweise für die barocke Oper gelten, wurden am Baden-Durlacher Hof offensichtlich nur insoweit zur Kenntnis genommen, dass die Selbsttötung der Lucretia nicht auf offener Bühne, sondern in der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt stattfindet. Karl Wilhelm liebte es sehr deftig, und so gibt es etliche sehr eindeutige Anspielungen auf den Geschlechtsakt, die aus der Komödiantenbudenwelt stammen. Noch ein Wort zum Stoff: Ein Detail, vielleicht auch die Pointe des Lucretia-Mythos, fällt in der Romanischen Lucretia unter den Tisch, denn "Die Schändung der Lucretia", wie sie von Livius und Ovid überliefert wurde, gehört zum Gründungsmythos Roms. Die Erzählung markiert das Ende der Monarchie und den Anfang der römischen Republik mit Lucius Tarquinius Collatinus, dem Witwer Lucretias, als einen der ersten Konsuln. Ich vermute, dass eine Republik zu Beginn des 18. Jahrhunderts so unvorstellbar war wie ... hm, genau, eine Frau, die ihre vom Herrscher bedrohte Ehre mit ihrem Leben verteidigt.

Jetzt zur Musik, über die habe ich noch kein Wort verloren. Die Romanische Lucretia von Casimir Schweitzelsperg ist eine ausgewachsene Oper mit Rezitativen, Arien, Duetten, Ensembles und, natürlich, einer Ouvertüre und mehreren Tänzen. Letztere waren besonders wichtig, und zum Leidwesen der Musiker haben die Tanzmeister am badischen Hof oft mehr verdient als die Kapellmeister. Ohne die vielen Tänze hat die Oper eine reine Spielzeit von über drei Stunden - ich bewundere die Fähigkeit der Menschen der Barockzeit zur Muße und zu ihrer Lust an ausgedehnten Festen und Feierlichkeiten. (Gegen diese Zeit sprechen die kurze Lebenserwartung, der grauenhafte Stand der Medizin und die abenteuerlichen hygienischen Bedingungen - die Gerüche beziehungsweise der Gestank müssen atemberaubend gewesen sein.) Das Orchesterchen oder besser das Ensemble ist klein besetzt und besteht aus Violine eins und zwei, Violetta (eine kleine Viola da Gamba), Fagott und Bass. Bei verschiedenen Arien sind obligate Instrumente wie eine oder zwei Oboen, Traversflöte, Viola d’amore und Viola da Gamba vorgesehen. Bei der Aufführung 2015 im Gartensaal des Karlsruher Schlosses wurde ein Cembalo als Generalbassinstrument eingesetzt. Die Hofkapelle des Jahres 1715 war sicher nicht groß, manche Musiker spielten auch verschiedene Instrumente.

Einige der Sängerinnen am Karlsruher Hof stammten nicht aus der eigenen Schule - es gibt Wissenschaftler, die vermuten, dass Karl Wilhelm von Baden-Durlach sich bei seinen Hofsängerinnen - zuweilen bis zu 70 Mädchen und junge Frauen - die Ospedali in Venedig als Vorbild genommen hatte. In diesen Waisenhäusern bekamen die jungen Frauen eine sehr gute musikalische Ausbildung; im Ospedale della pietà etwa komponierte sogar Antonio Vivaldi für die Musikerinnen. Anna Barbara Lederin, die Frau Schweitzelspergs, war eine der Sängerinnen, die nicht aus Karlsruhe oder der Umgebung kamen. Ob sie bei der Aufführung der Romanischen Lucretia mitwirkte ist, wie überhaupt die ganze Besetzung der Erstaufführung, nicht bekannt. Musikalisch sind die Welten der Tragödie und der Komödie deutlich unterschieden, die Seria-Figuren dürfen mit Koloraturen glänzen. Die Tonfälle der Buffa-Figuren sind deutlich volkstümlicher, wenn  ihre Arien auch Da-capo-Form haben. Ich hatte beim Zuhören den Eindruck, dass Schweitzelsperg für das Deftig-Volkstümliche mehr und Besseres eingefallen ist als bei den Seria-Figuren, deren Arien zwar kunstvoll ausgeschmückt, aber irgendwie seltsam blass bleiben. Das gilt vor allem für die beiden Sopran-Rollen des Tarquinius und der Aurora, die im Prolog die Oper eröffnet. Lucretia, die Titelpartie, ist für Mezzosopran geschrieben. Sie hat nicht allzu viel zu singen und schon gar nichts zu jubilieren: Hier ist eine Tragödin gefragt, deren Schicksal die Zuhörerin zu Tränen rührt und nasse Taschentücher hinterlässt.

Vilma Fichtmüller

Ganz andere Zeit, ganz anderer Blickwinkel: Mitte der 1930er Jahre mischte eine blutjunge Sängerin das Badische Staatstheater auf. Vilma Fichtmüller (1910 - 2008) bezauberte mit einem hochdramatischen Sopran, der ihr die Herzen der Melomanen zufliegen ließ. Später hat sie ihre Memoiren geschrieben, die ich für den Karlsruher Blick in die Geschichte gelesen und zusammengefasst habe. Christiane Voigt, die hochbetagte Tochter von Margarete Voigt-Schweikert, gehörte übrigens zu der Gruppe von Teenagern, die für Fichtmüller schwärmte.

Richard Fuchs

Eine echte Entdeckung ist das erste Streichquartett des Komponisten Richard Fuchs, der 1887 in Karlsruhe geboren wurde und 1947 in Wellington, Neuseeland, starb. Seine Lebensdaten lassen ahnen, dass er als Jude im nationalsozialistischen Staat verfolgt wurde und erst in letzter Minuten der Mörderbande entkommen konnte: Nach der Pogromnacht 1938 befand er sich schon in Dachau, als ein Bekannter, der bereits in Neuseeland lebte, für ihn bürgte und ihm und seiner Familie die Ausreise ermöglichte.  Eigentlich war er Architekt, doch schon während seiner Schulzeit studierte er parallel an der Badischen Hochschule für Musik Harmonielehre, Kontrapunkt und Instrumentation. Fuchs war ein ausgezeichneter Pianist. Neben seiner erfolgreichen Tätigkeit als Architekt komponierte er Lieder und Kammermusik; 1935 erhielt der  Architekt Berufsverbot. Als Vorsitzender des Jüdischen Kulturbunds Baden schuf er auch einige groß besetzte Werke für Chor und Orchester und Sinfonien. In Neuseeland hatte er viel Zeit zum Komponierten, als feindlicher Ausländer - hier zählte er als Deutscher - bekam er zunächst keine Arbeitserlaubnis. Allerdings gab es in dem Land damals kein Sinfonieorchester, keine etablierten Konzertreihen und kein Konservatorium - also kaum Aufführungsmöglichkeiten. Darüber hinaus steht Richard Fuchs' Musik deutlich in deutsch-romantischer Tradition, die während des Krieges und kurz danach in Neuseeland gründlich desavouiert war. In Neuseeland gibt es ein Richard Fuchs Archive (s. Link).  Am 19. Juni 2007 wurden in der Hochschule für Musik Karlsruhe erstmals Werke von Richard Fuchs in der Bundesrepublik aufgeführt.

Zeitgenössische Komponisten

An der Hochschule für Musik Karlsruhe lehren drei Komponisten: Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, einer der bedeutendsten Tonschöpfer seiner Generation, sein 1967 geborener Schüler Markus Hechtle und Anno Schreier, Jahrgang 1979. Rihm und Hechtle haben beide Professuren für Komposition inne, Schreier ist Lehrbeauftragter für Musiktheorie. Wolfgang Rihm ist in Karlsruhe sehr präsent, nicht zuletzt, weil er ein hervorragender, charismatischer Vermittler seiner eigenen Kunst und der anderer Komponisten unserer Zeit ist. 2012 waren ihm unter dem Titel Musik baut Europa die gesamten Europäischen Kulturtage gewidmet. Unvergesslich der Eindruck seines Oratoriums Deus Passus, das damals in der Christuskirche zu hören war. Von Markus Hechtle ist mir vor allem das Stück Von Herzen innig für drei Schlagzeuger in Erinnerung, bei dem der Puls der Spieler die Schlagfrequenzen vorgibt. Von Anno Schreier habe ich vor ein paar Tagen erstmals etwas gehört, Lieder nach Texten von Eichendorff und Christian Morgenstern und Fuoco e lagrime, canti per soprano e pianoforte su testi di Marcel Beyer e Michelangelo Bunarroti. Schreier schafft es, den lyrischen Ton der Romantik - bei Eichendorff ist Schumann nie weit - ins 21. Jahrhundert mitzunehmen und so zu transformieren, dass beide Klangwelten präsent sind. Fuoco e lagrime macht deutlich, dass er die Dramatik genau so gut beherrscht. Am 22. November 2015 wird seine Musik für Violoncello und Orchester On A Long Strand von der Badischen Staatskapelle uraufgeführt - ich habe mir eine der letzten Karten gesichert:

 

Ich war ausgesprochen neugierig, wie Schreier, von dem ich vor einigen Wochen wunderbar zarte, klangsensible Gesänge kennen gelernt habe, mit nicht textgebundener Musik umgeht. Was ich gehört habe, waren vor allem dunkle Orchesterfarben, kraftvolle Rhythmen, spannender Umgang mit dem musikalischen Material und eine kreischende Dissonanz als Schlussklangschichtung. Letztere kam überraschend, denn obwohl sich Schreier, Jahrgang 1979, in seiner Musiksprache durchaus und entschieden im 21. Jahrhundert bewegt, versteht er es, sein Material so zu formen, dass es angenehm anzuhören ist. So wie seine Lieder beim ersten Hinhören einfach scheinen, es aber in sich haben, so verbergen sich auch beim Cellokonzert hinter der Zugänglichkeit Reife und profundes Können. Anno Schreier beschäftigt sich viel mit der menschlichen Stimme, bislang ist er vor allem als Opern- und Liederkomponist bekannt. Bezeichnenderweise hat er das Gedicht North des irischen Dichters Seamus Heaney, das ein Auslöser für die Komposition des ersten Satzes war, zunächst als Vorstudie für Bariton und Klavier vertont. Obwohl Schreier die klassische dreisätzige Solokonzertform wählt, verlässt er in vieler Hinsicht die traditionellen Pfade: Das Soloinstrument ist häufig eng mit dem Orchestersatz verwoben, es monologisiert zu Beginn des zweiten Satzes und beginnt später ein Gespräch zu dritt mit Flöte und Horn. Ausgesprochen lebhaft spielt der dritte Satz Reeling And Tumbling mit Tonfällen der irischen Volksmusik.

 


Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos.