Klangrausch - unplugged

Margarete Voigt-Schweikert und Clara Faisst

  

Im letzten Konzert im März 2015 kombinierten wir am Schweikert-Projekt der GEDOK Karlsruhe Beteiligten  Lieder und Kammermusik von Margarete Voigt-Schweikert (1887 - 1957) mit Werken von Clara Faisst (1872 - 1948), auch sie eine Karlsruher Musikerin und Komponistin. Anlass für den Seitenblick auf Faisst war der 300. Geburtstag der Stadt Karlsruhe. Es musizierten die Pianistin Jeannette La-Deur, die die künstlerische Leitung des Projekts innehat und auch die Schweikert-Noten herausgibt, und die Geigerin Annelie Groth. Die Lieder gestaltete der Bariton Armin Kolarczyk.

Hier mein Beitrag für das Programmheft:

 

Zwei Komponistinnen, geboren in Karlsruhe, im Abstand von 15 Jahren. Und das in einer Zeit, in der komponierende Frauen eigentlich gar nicht vorgesehen waren. Beider außergewöhnliche musikalische Begabung wurde früh wahrgenommen und gefördert, beide wurden Virtuosinnen auf ihrem Instrument. Für beide war es ein Wagnis, die Grenzen ihres Geschlechts zu überschreiten, sich nicht nur als Instrumentalsolistin ausbilden zu lassen und dann den Beruf als Privatmusikerzieherin anzustreben. Das wäre einigermaßen realistisch und durchaus auch schicklich gewesen, zumal im scheinbar so konservativen Karlsruhe um 1900. Finanzielle Erwägungen spielten bei der Studienentscheidung sicherlich eine untergeordnete Rolle, für Frauen aus dem Bürgertum waren die Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt selbständig zu verdienen, sowieso nicht üppig. Und dennoch: Zwei hervorragend ausgebildete Komponistinnen in Karlsruhe, das um diese Zeit gerade einmal knapp 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Wie war das möglich?

Vielleicht lag es auch daran, dass zwei gerade eröffnete musikalische Bildungseinrichtungen um die Töchter und Söhne der Stadt konkurrierten. Die 1872 geborene Clara Faisst wurde von Heinrich Ordenstein, dem Gründer des Badischen Konservatoriums unterrichtet, Margarete Schweikert, die 1887 zur Welt kam, von Theodor Munz, der sein eigenes Konservatorium leitete. Clara Faisst und Margarete Schweikert gehörten zu den ersten Schülerinnen und Schülern der beiden Konservatorien – die Aufbruchstimmung war für die beiden Mädchen sicherlich von Vorteil. Beide verließen vorzeitig die Höhere Mädchenschule beziehungsweise das Mädchengymnasium: Beider Gesundheit schien zu labil, und eine Ausbildung zur Musikerin war auch ohne Abitur möglich. Darüber hinaus waren die Möglichkeiten einer Musikerin, den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, äußerst mager, und im Bürgertum war die Versorgungsehe gesellschaftliche Norm.

 

Das Einzelkind Margarete Schweikert, von den Eltern gefördert und sicher auch gefordert, verfolgte schon früh und zielstrebig den Wunsch, Musikerin zu werden. Die tatkräftigen, bodenständigen Frauen ihrer Familie – die Großmutter und eine Tante führten ein Goldwarengeschäft in der Karlsruher Kaiserstraße – gaben Beispiel, Ansporn und Rückhalt. Am Badischen Konservatorium, dem Vorläufer der Badischen Hochschule für Musik, studierte sie die Fächer Violine, Musiktheorie und Komposition. Ab dem Wintersemester 1912/1913 setzte sie ihre Studien in Stuttgart privat fort. Ihre Lehrer dort waren der Geiger Karl Wendling und der Komponist Joseph Haas, ein Schüler Max Regers.

Clara Faisst am Klavier, etwa 1930
Clara Faisst am Klavier, etwa 1930, Stadtarchiv Karlsruhe

Clara Faisst, das jüngste von sechs Kindern eines Oberkirchenrates, sollte wie ihre Schwestern am Karlsruher Prinzessin-Wilhelm-Stift zur Lehrerin ausgebildet werden. Ihre eminente Begabung legte musikalische Studien nahe: Sie wagte den weiten Sprung nach Berlin, wo sie zunächst von dem Pianisten Karl Klindworth unterrichtet wurde. An der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin studierte sie die Fächer Klavier und Komposition. Der heute noch bekannteste Musiker, der Clara Faisst unterrichtete, war Max Bruch, an dessen Meisterklasse für Komposition sie teilnahm. Die lernbegierigen „jungen Damen“ wurden an der Hochschule keineswegs von allen mit offenen Armen empfangen. Ein Schreiben von Ernst Rudorff, Faissts Klavierprofessor, unterrichtet uns über die Stimmung in der männerdominierten Musikwelt, in der Frauen, ausgenommen die unersetzbaren Sängerinnen, allenfalls als Instrumentalsolistin geduldet wurden. Von den Orchesterstunden an der Hochschule jedenfalls hätte er sie am liebsten ausgeschlossen: „Ihren Bedürfnissen nach künstlerischer Erkenntniß würde vollauf Genüge geschehen, wenn man ihnen zu den letzten Proben vor den Aufführungen Zutritt gewährte, da sie doch weder dirigiren, noch komponiren, noch instrumentiren lernen sollen.“ „Sollen“ - von „können“ ist hier nicht die Rede!

Clara Faisst wie Margarete Schweikert aber begannen früh zu komponieren: Lieder von Faisst erklangen in einer öffentlichen Prüfung des Badischen Konservatoriums am 3. April 1889, und auch Schweikert war ungefähr im gleichen Alter wie Faisst, als Lieder von ihr am Munz'schen Konservatorium aufgeführt wurden. Dass beide Komponistinnen mit Liedern anfingen und hauptsächlich Lieder schrieben beruht auf einer ganz speziellen Tradition: Lieder, Chöre und Kammermusik wurden weiblichen Tonschöpfern noch am ehesten zugetraut und zugebilligt. Überdies haben Werke in kleiner Besetzung oder Stücke, die die Komponistin selbst (mit-)interpretieren kann, am ehesten die Chance, ein Publikum zu erreichen. Von Margarete Schweikert wissen wir, dass noch am Munz'schen Konservatorium 1906 ihre Komposition für Soli, Chor und Orchester, der 57. Psalm, uraufgeführt wurde. Ein zweites Mal erklang der Psalm im Februar 1907 in der Evangelischen Stadtkirche. Die Karlsruher Zeitung berichtete darüber: „Die junge Tonkünstlerin hat mit dieser Arbeit eine beachtenswerte Talentprobe geliefert, die zu schönen Hoffnungen berechtigt.“ Doch was nützen die schönsten Hoffnungen, wenn die Komponistin keinen Zugriff auf Orchester, Chöre und Solisten hat, wie das bei komponierenden Dirigenten etwa der Fall ist? Selbst die Orchester der Zeit standen Frauen nicht offen, und an eine Frau, die an einer Musikhochschule Komposition lehrt, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht einmal zu denken!

Künstlerpostkarte Margarete Schweikert, 1912, Badische Landesbibliothek
Künstlerpostkarte Margarete Schweikert, 1912, Badische Landesbibliothek

Also blieb der Rückzug auf das Konzertieren – Margarete Schweikert trat als Geigerin auf und begleitete am Klavier häufig ihre Lieder -, auf das Musizieren im privaten Kreis – diese Lösung wählte Clara Faisst – sowie auf das Unterrichten und Schreiben. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs publizierte vor allem Clara Faisst, die gegenüber Margarete Schweikert einen Altersvorsprung von 15 Jahren hatte, immer wieder Lieder und Chorsätze. In der „guten alten Zeit“ musste, wer Musik hören wollte, diese selbst machen oder ins Konzert gehen, häusliches Musizieren war weit verbreitet, und es wurde viel gesungen: Der Bedarf an Noten, auch an neuen Werken, war enorm. Darüber hinaus gab es, verglichen mit heute, eine Vielzahl von Musikzeitschriften, in denen einzelne Lieder veröffentlicht werden konnten. Faisst vor allem nutzte auch den Selbstverlag, sie ließ ihre Lieder drucken und vertrieb sie über den lokalen Musikalienhandel. Auf den Altersvorsprung ist es zurückzuführen, dass von Clara Faisst deutlich mehr Lieder gedruckt wurden als von Margarete Schweikert – die Qualität der Werke hat damit ausdrücklich nichts zu tun.

Der gesellschaftliche Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg ging mit der musikalischen Umwälzung nicht nur der Zweiten Wiener Schule und ihren Folgen einher: Die Aufführung neuer Musikwerke war für die meisten Programmverantwortlichen nicht mehr selbstverständlich, der Blick richtete sich vielmehr auf die Vergangenheit. Grammophon und Radio machten das eigene Musizieren weniger bedeutsam, neue Musikstile, vor allem in der Unterhaltungsmusik, forderten die Aufmerksamkeit des Publikums. Auf diesen Epochenbruch reagierten Clara Faisst und Margarete Schweikert mit unterschiedlichen Arten des Rückzugs: Die „höhere Tochter“ Clara Faisst wurde nach dem Tod ihrer Mutter als Waise von der evangelischen Kirche finanziell unterstützt und konnte mit Dienstmädchen in der elterlichen Wohnung bleiben. Sie schuf sich, unterstützt von einem teils illustren Freundeskreis, eine eigene Welt, in der sie gleichsam als Hohepriesterin der Künste – sie verfasste Gedichte und Zeitungsartikel - ihren rückwärtsgewandten Idealen leben konnte. Margarete Schweikert hingegen zeigte sich zumindest als Geigerin und Konzertveranstalterin den neuen musikalischen Entwicklungen gegenüber offen: In ihren Programmen hatten neben Max Reger auch Gustav Mahler und Paul Hindemith Platz, und als Musikkritikerin lehnte sie Avantgardistisches nicht in Bausch und Bogen ab. Margarete Schweikert heiratete spät und führte das Leben einer Mutter und Hausfrau, die nur noch gelegentlich auftrat und komponierte. Der berufliche Wiedereinstieg wurde ihr durch das nationalsozialistische Regime, das Doppelverdienerinnen ausschloss, verwehrt. Clara Faisst starb am 22. November 1948, Margarete Voigt-Schweikert am 13. März 1957.

 

Musikalisch sind beide Komponistinnen der Spätromantik verpflichtet. Beide schrieben „starke“, ausdrucksvolle Lieder, unter den vertonten Dichtern finden sich oft die gleichen Namen. Von Margarete Schweikert kennen wir rund 160 Lieder, von denen zu ihren Lebzeiten 21 gedruckt wurden, von Clara Faisst sind rund 100 Lieder überliefert. Darüber hinaus schufen die beiden Chöre, Kammer- und Orgelmusik.

Birgitta Schmid

 

Der Nachlass von Margarete Schweikert liegt in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Teile des Nachlasses von Clara Faisst befinden sich in der Badischen Landesbibliothek und im Landeskirchlichen Archiv Baden in Karlsruhe. Auch das Stadtarchiv Karlsruhe bewahrt einige Archivalien zu den beiden Komponistinnen auf.

 

Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos.