Der 1936 geborene Komponist und Dirigent Hans Zender nennt seine Winterreise eine "komponierte
Interpretation" des Liederzyklus von Franz Schubert. Dessen Winterreise zählt zu den Gipfelwerken des romantischen Kunstliedes: Hier wird keine linear verlaufende Geschichte erzählt, die Lieder kreisen um die existentielle Erfahrung
von Liebesverlust, Enttäuschung und Einsamkeit, die den Wanderer in auswegloser Unrast umhertreibt. Die abweisende Natur spiegelt und intensiviert den Schrecken, der Taumel zwischen
frühlingsheller Erinnerung und eisig kalter Realität gebiert wahnhafte Momente. Zender ging es in seiner 1993 uraufgeführten Bearbeitung darum, den Abgrund in Wilhelm Müllers Gedichten und Franz Schuberts Liedern für die Zuhörerinnen
und Zuhörer unserer Zeit erfahrbar zu machen. Ich finde, dass ihm das großartig gelungen ist. Am 5. Dezember 2015 habe ich eine Aufführung durch das Sinfonieorchester Baden-Baden und
Freiburg gehört, die mich sehr berührt hat. Erstmal durch die fantastische Qualität der Musikerinnen und Musiker, die auch Werke, die größer besetzt sind als die zendersche
Winterreise, unglaublich filigran und
transparent darstellen können. Die Auflösung dieses in der Neuen Musik so traditionsreichen Klangkörpers ist und bleibt eine ewige Schande für den SWR und seinen Intendanten
Peter Boudgoust - ich finde es immer wieder erstaunlich, welchen Menschen wir mitunter unser kulturelles Erbe und unsere kulturelle Zukunft anvertrauen! Jetzt aber zurück zur
Aufführung im Festspielhaus: Nicht weniger beeindruckend als das Orchester fand ich die Präzision und Ausdrucksstärke von Daniel Behle: Der Tenor setzte auf feine Akzente und Farben, auf
Genauigkeit und Klarheit der Textausdeutung. Seine Stimme fügte sich nahtlos in das Klanggewebe des kleinen, mit außergewöhnlichem Instrumentarium agierenden Orchesters. Last, but not least
der Dirigent Stefan Asbury, der sich völlig in den Dienst des Werkes stellte, auch optisch mit dem Orchester zu verschmelzen schien. Er koordinierte Solist und Orchester mit knappen Gesten
und eröffnete den spannungsvollen Klangwelten weite Räume. - Ich meine, dass die von Hans Zender komponierte Interpretation der Winterreise ein wunderbarer Einstieg in die Welt der Neuen Musik sein kann. Am besten live und
unplugged!
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